Fragen zur Mobilitätswende an Prof. Dr. Carmen Hagemeister

Den meisten Menschen ist mittlerweile klar, dass wir eine Mobilitätswende brauchen. Der Straßenverkehr ist nicht nur ein wichtiger Treiber des Klimawandels; verstopfte Straßen und Städte bedeuten auch für uns Menschen schlechte Luft, Lärm und insgesamt weniger Lebensqualität und eine Gefahr für unsere Gesundheit.

So weit die Erkenntnis über die Notwendigkeit. Trotzdem fällt vielen Menschen ein Umdenken in ihrem Alltag schwer, wenn es um konkrete Veränderungen vor ihrer Haustür geht. Gerade die Parkraumverknappung in den Städten zugunsten von Grünflächen, Fahrradfahrer*innen und Fußgänger*innen führt häufig zu Protesten der Anwohnenden. Woran liegt das? Wie können Hürden abgebaut werden? Wie geht man mit dem Widerstand der Menschen um? Was braucht es für ein Umdenken? Welche politischen Rahmensetzungen sind dafür nötig?

Prof. Dr. Carmen Hagemeister

Darüber haben wir uns mit einer Expertin in Sachen Verkehrspsychologie unterhalten. Dr. Carmen Hagemeister ist Professorin an der Universität Dresden und hat viele Studien zu den Themen Mobilität, Verkehrssicherheit und Radinfrastruktur geleitet.

1. Frau Dr. Hagemeister, was ist Ihrer Ansicht nach der größte Nutzen einer Mobilitätswende? Wo liegt der Mehrwehrt für alle Menschen?


Der größte Nutzen liegt in der Gesundheit der Menschen: Mobilitätswende bedeutet mehr körperliche Gesundheit: weniger Schadstoffe, weniger Lärm und mehr Bewegung, weil die Menschen weniger Wege mit dem Auto und mehr Wege zu Fuß und mit dem Rad zurücklegen, ganz oder bis zu Bus oder Bahn. Weniger Schadstoffe bedeutet vor allem weniger Krankheiten der Atemwege, weniger Lärm bedeutet besseren Schlaf mit all seinen guten Folgen, und mehr Bewegung führt dazu, dass Menschen allgemein gesünder sind. Die Umwelteinflüsse betreffen zwar alle Menschen, aber nicht alle gleich stark: Menschen, die mehr Geld haben, können sich eher leisten, in einem weniger belasteten Gebiet zu wohnen. Heißt auch: Menschen, die sich kein Auto leisten können und wenig Schaden anrichten, sind außerdem stärker von den Folgen des Autoverkehrs betroffen. Diese Menschen würden also am meisten profitieren.

Falls weniger Auto gefahren wird, werden die Effekte relativ schnell eintreten, aber wir müssen auch für die Gesundheit in den kommenden Jahrzehnten vorsorgen. Es wird wärmer bei uns werden. Wir brauchen Platz für Bäume, um die Hitze auszuhalten. Unsere Häuser sind nicht für die Temperaturen von Madrid gebaut. Nur wenn wir sehr viel mehr Grün und sehr viel weniger versiegelte Flächen haben, haben wir eine Chance, weiter gesund in der Stadt zu leben. Ansonsten werden viele ältere Menschen und Personen mit Kreislaufproblemen deutlich früher sterben. Bäume brauchen wir überall, es ist also keine Lösung, irgendwo in Hamburg ein paar Wälder zu pflanzen. Wenn wir keine Häuser abreißen wollen, um Platz für Bäume zu schaffen, muss der Platz an anderer Stelle gewonnen werden: Wir müssen Parkplätze im öffentlichen Raum abschaffen, damit wir Platz für Bäume bekommen.

2. Dennoch argumentieren viele Menschen, dass sie zum Beispiel aus beruflichen Gründen „auf das Auto angewiesen seien“. In den Köpfen vieler Menschen, hat außerdem jede*r einen Anspruch darauf, mit seinem PKW öffentlichen Raum einzunehmen. Haben Sie Verständnis für die Widerstände in Teilen der Bevölkerung? Was sind die großen Hürden?

Jahrzehntelang haben die meisten Politiker:innen den Menschen vorgegaukelt, dass jede:r (erwachsene nichtbehinderte) Mensch ein Recht auf ein Auto hat und dieses Auto im öffentlichen Raum abstellen darf. Wenn man nur endlich ein Auto hat, ist man „frei“. Aufgrund dieses Versprechens haben sich viele vom Auto abhängig gemacht, haben einen Wohnort gewählt, wo der Bus nur selten fährt oder die Verbindung zur Arbeit schlecht ist, schicken ihre Kinder in einen Sportverein, von dem sie am Abend nicht allein nach Hause kommen dürfen, weil es angeblich zu gefährlich ist, wählen eine Kita oder Schule, die das Kind weder zu Fuß noch allein erreichen kann. Vieles davon kann man nur langsam ändern. An diesem Lebensmodell merkt man auch, dass ein Kfz nicht nur einen Parkplatz beansprucht, sondern mehrere: einen an der Wohnung, einen am Sportverein, einen an der Kita oder Schule (da parkt man dann auch mal illegal, ist ja für mein Kind, ist ja nur für 5 Minuten, was an einigen Schulen zu enormen Problemen mit der Verkehrssicherheit sorgt).

Dann gibt es Menschen, die nur ab und zu ein Auto brauchen, z.B. für Familienbesuche auf dem Land, und es gelegentlich nutzen, weil es bequemer ist. Und das Auto steht kostenlos im öffentlichen Raum. Den Bedarf dieser Menschen könnte man relativ einfach und schnell durch Carsharing decken und viele Parkplätze sparen.

Die größte Hürde für Veränderungen ist – beim Autofahren, beim Autobesitzen und auch sonst -, dass der Mensch ein Gewohnheitstier ist. Es fällt uns schwer, lange eingeübtes Verhalten zu verändern. Dazu brauchen wir einen Anstoß. Und bei Parkplätzen kommt dazu das Gefühl, dass einem etwas „weggenommen“ wird, obwohl einem der Parkplatz nicht gehört. Wenn man in Wohngebieten mit dichter Bebauung unterwegs ist, kann man sehen, dass mindestens jedes zehnte Kfz parkt, wo es verboten ist; in einigen Straßen sind es fast alle: Lieber den Gehweg einengen als die Fahrbahn. Darum hat sich lange niemand gekümmert. Die rechtliche Norm – was ist erlaubt? – wird durch die faktische Norm – was sieht man überall? – ersetzt. Niemand kontrolliert, niemand beschwert sich (Wer will sich schon mit den Nachbarn anlegen?), und viele Autofahrende haben keinerlei Unrechtsbewusstsein, wenn sie Fußgänger:innen und Radfahrende einschränken. Meist passt es ja „irgendwie“ noch: Der Vater und die Kinder gehen hintereinander, die Rollstuhlfahrerin fährt an einer anderen Absenkung herunter, das Kind schafft es, mit dem Laufrad zwischen Hauswand und Auto durchzukommen, ohne dass es eine Schramme gibt. Die Bäume, auf deren Baumscheiben regelmäßig geparkt wird, sterben nur langsam.

Es wird Zeit, dass die Politik hier eine klare Ansage macht und dass die Regeln auch durch die zuständigen Behörden durchgesetzt werden. Auch Menschen ohne Auto haben ein Recht auf öffentlichen Raum und Sicherheit.

3. Was braucht es für ein Umdenken? Wie kann die Politik hier entsprechende Weichen stellen?

Die Politik muss Ziele formulieren, begründen und vermitteln. Es geht um unsere Gesundheit, und es geht um die Gesundheit unserer Kinder und Enkel. Die Verringerung der Zahl von Parkplätzen ist kein Ziel, sie ist ein Mittel, sie ist dafür notwendig, dass es mehr Platz für Fußgänger:innen und Radfahrende gibt, dass Menschen ohne Auto ihr Ziel sicher erreichen können, dass wir im öffentlichen Raum Platz für Begegnung und Spiel haben, dass wir mehr Bäume pflanzen können.

Die schwierigste Aufgabe für die Politik wird vermutlich sein, wie sie ohne Glaubwürdigkeitsverlust erklärt, dass lange nichts passiert ist und warum jahrelang nicht kontrolliert wurde.

Die erste notwendige Maßnahme besteht darin, dass die derzeitigen Regelungen auch durchgesetzt werden müssen, und zwar sobald wie möglich. Grenzwerte für Schadstoffe und Lärm sind entstanden, weil ihre Überschreitung mit Gesundheitsgefahren verbunden ist. Verkehrsregeln dienen der Verkehrssicherheit, also der Gesundheit im engeren Sinne. Sie dienen der Gesundheit auch im weiteren Sinne, wenn Eltern ihre Kinder nicht mehr einsperren und diese sich draußen bewegen können, Freund:innen treffen und auch sonst selbstständiger werden.

Für Kontrollen muss Geld in die Hand genommen werden. Durch die Bußgeldreform ist die Kontrolle von Falschparken auf dem Gehweg endlich kein Zuschussgeschäft mehr. Man muss nur kontrollieren wollen, und man muss bereit sein, sich unbeliebt zu machen bei einigen Gruppen. (Die Menschen, die Falschparkerkontrollen gut finden, äußern sich vermutlich nicht.) Ob und wieviel kontrolliert wird, ist eine politische Entscheidung. Politiker:innen müssen Farbe bekennen: Wer Verständnis für Falschparken äußert, setzt den Wert eines illegalen Parkplatzes höher an als das Leben des Kindes, das nichts sehen konnte und nicht gesehen wurde und deshalb einen Unfall hat. Wer das Leben des Kindes wichtiger findet, muss dafür sorgen, dass Falschparken kontrolliert wird.

Längerfristig brauchen wir „Klimakommunikation“: Viel Wissen ist vorhanden, aber es ist nicht bei denen, die handeln können und müssen. Alle Menschen müssen verstehen, was die Herausforderungen der kommenden Jahrzehnte sind, was man in einer Stadt machen kann, wie sie persönlich dazu beitragen können, wo sie sich zum Wohl aller einschränken müssen und welchen Gewinn sie davon haben. Die Mobilitätswende ist nur ein Baustein in dem, was nötig ist, und sie muss viel schneller und radikaler verlaufen als jemand im Wahlkampf sagen würde. Politiker:innen werden immer im Verdacht stehen, dass sie ihre eigenen Interessen und die ihrer Partei vertreten, eignen sich also nicht als Klimakommunikator:innen. Daher braucht man dafür neutrale Institutionen, die finanziert werden müssen. Das wiederum ist eine Entscheidung der Politik.